Gesamtschule

Die Entscheidung, eine Gesamtschule zu besuchen, habe ich nie bereut. Meine Mutter hatte den 10jährigen Axel damals zusätzlich an einem Gymnasium angemeldet. Auch dort habe ich den Eingangstest problemlos bestanden. Entschieden habe ich mich dann aber doch für diese Schule. Ausschlaggebend war das Angebot an romanischen Sprachen und der Ganztagsbetrieb mit umfangreichen Freizeitangeboten: Ich erinnere an die Arbeitsgemeinschaften, die Mensa, den Spielkeller sowie die Bibliothek, in denen ich über Jahre hunderte Freistunden und Mittagspausen verbracht habe.

Meine Gesamtschule war damals noch größer als heute. Die Gustav-Heinemann-Schule war eine der Ersten in Nordrhein-Westfalen und auch die Erste in Mülheim. Ich habe die gesamten 80er Jahre hier verbracht und freiwillig auch noch etwas mehr.
Damals gab es mit Beginn des 5. Jahrgangs acht Klassen zu je 30 Schülerinnen und Schülern. Ab dem 7. Jahrgang wurden daraus zehn Klassen mit je 24 Schülerinnen und Schüler. Es wurden aus allen Klassen sechs Personen ausgewählt und daraus zwei neue Klassen gebildet. In meiner Klasse war ich einer dieser sechs.
Der Wechsel der Klasse und die Trennung der Unter- und Oberstufe haben dazu geführt, dass ich in über die Jahre viele verschiedene Lehrerinnen und Lehrer hatte. Ich habe nicht alle gemocht, aber viele haben mein Leben beeinflusst. Und das eher positiv!

Zu einigen Lehrerinnen und Lehrern hatte ich ein sehr gutes Verhältnis. Sie haben sich nicht nur von uns Schülern duzen lassen, sondern teilweise auch privat mit uns gute Kontakte gepflegt. So habe ich zusammen mit anderen bei dem Einen oder Anderen einige Stunden zu Hause verbracht und zum Beispiel Crepe gegessen oder über Kunst und Politik diskutiert. Das gilt für Irmelind Trempler, bei der ich in der Oberstufe Französisch hatte, Eike Trempler, der personifizierte Künstler sowie meinen ersten Französisch-Lehrer Dr. Frank Albrecht, aber auch für Ralf Rahier, meinen ersten Klassenlehrer, bei dem ich anfangs Kunst und Englisch hatte.

Wenige leben heute noch in Mülheim. Manchmal begegne ich ihnen und wir erkennen uns immer noch wieder. Rosemarie Scholz, Lehrerin für Deutsch und Englisch, und Rolf Gentges – damals Referendar für Englisch – gehören dazu. Eike Trempler ist leider bereits vor einigen Jahren verstorben. Seine Trauerfeier hier im Silentium war sehr bewegend für mich. Ralf Rahier lebt inzwischen an der Ostsee. Er war schon zu meiner Schulzeit ein begeisterter Marionettenspieler.

Meine ersten Berührungspunkte mit Marionetten waren als Kind. Ich habe damals im Fernsehen die Augsburger Puppenkiste gesehen. Gezeigt wurden zum Beispiel Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer sowie das Sams. Meine aktive Zeit mit Marionetten hat in der fünften Klasse begonnen. Hier in der Schule gab es schon damals an mehreren Tagen mittags Arbeitsgemeinschaften mit vielfältigen Angeboten aus den Bereichen Kultur, Sport, Technik und Sprachen. Nach einem halben Jahr in der Schach-Age von Herrn Miebach, wechselte ich in die Marionetten-Age meines Klassenlehrers Ralf Rahier. Dort blieb ich zehn Jahre, länger als ich hier Schüler war. Oben in der dritten Etage über dem Haupteingang habe ich Marionetten gebaut und Theater gespielt. Der Höhepunkt war ein privater Besuch des weltberühmten Salzburger Marionettentheaters. Dank Ralfs Kontakt zur damaligen künstlerischen Leiterin Frau Prof. Aicher; der Enkelin des Gründers, habe ich eine exklusive Führung hinter den Kulissen bekommen und konnte eine Vorstellung der Oper „Hoffmanns Erzählungen“ besuchen.

Übrigens, das Salzburger Marionettentheater hat damals schon die Technik der Holographie genutzt. Heute erleben wir dies im Zirkus Roncalli mit Tierbildern als Ersatz für Dressurnummern. Ich konnte es Ende März beim Gastspiel in Oberhausen live sehen. – Ralf besuchte damals mit einer Marionette Roncalli: Er hatte den Schweizer Seifenbläserclown Pic nachgebaut.

Über meine Zeit an dieser Schule gibt es aber leider nicht nur Gutes zu berichten. Ich habe auch Erlebnisse gehabt, an die ich nicht so gerne zurückdenke. Eine dieser Erfahrungen ist eng mit dem Thema Sprachen verbunden und mir deshalb stets präsent. Mein Interesse an Sprachen war ja einer der Gründe, diese Schule zu besuchen. Und da ich damals Romanistik studieren wollte, war für mich auch klar, dass ich Französisch und Spanisch als Abiturfächer belegen wollte. Und möglichst als Leistungskurse.

Die Ernüchterung kam allerdings in der 11. Klasse mit der Wahl der Kurse. Die Schulleitung war nicht bereit, für beide Sprachen einen Leistungskurs einzurichten. Entscheiden sollte nicht das Los, sondern die Zahl der Anmeldungen: Für Französisch gab es 13, für Spanisch 12. So hatte ich dann ab dem zweiten Halbjahr den Leistungskurs Französisch, bestehend aus zwölf Schülerinnen, der Lehrerin Irmelind Trempler und mir als Hahn im Korb, sowie einem Grundkurs Spanisch, der Dank der Lehrerin Frau Schlang-Redmond zeitweise durchaus Leistungskursniveau hatte.
Bereits eineinhalb Jahre später kam die nächste Ernüchterung, denn es gab am Ende der 12. Klasse nur noch vier Schülerinnen und Schüler, die Spanisch bis zum Abitur belegen wollten. Alle Anderen hörten auf. Und ich war der Einzige, der Spanisch als Abiturfach gewählt hatte. – Die Bedingung der Schulleitung zur Weiterführung des Kurses mit vier Personen war ein neuer Lehrer. – Ich hatte Glück. Herr Loth kam von Gelsenkirchen nach Mülheim.

Doch die Probleme ließen nicht lange auf sich warten. Schon vor den Weihnachtsferien, kurz nachdem Herr Loth die Aufgaben für die Abiturklausuren bei der Bezirksregierung zur Genehmigung eingereicht hatte, fiel der Unterricht wegen Krankheit aus. Nach den Ferien gab es dann einige Vertretungsstunden von Frau Schlang-Redmond.

Mitte März 1989, kurz vor den Osterferien, fanden die schriftlichen Prüfungen statt. In der ersten Woche habe ich freitags meine Klausur in Französisch geschrieben. In der zweiten Woche standen am Dienstag Erdkunde, mein anderer Leistungskurs, und am Donnerstag Spanisch auf dem Plan.

Die Klausuren in den Leistungskursen liefen inhaltlich ohne Probleme. Der Schock kam jedoch während der Erdkundeklausur: Wir bekamen die Mitteilung, dass unser Spanischlehrer gestorben ist. Er hatte Krebs.

Der Schock saß auch zwei Tage später noch tief. Ich saß im Klassenraum und hatte die Aufgabe, eine Spanischklausur zu bearbeiten, die rund drei Monate vorher mein verstorbener Lehrer erstellt hatte. Die Schulleitung bot mir sogar an, die Klausur zu verschieben und nach den Osterferien zu schreiben. Aber wäre die Situation eine Andere gewesen? – Nein, ich habe sie tapfer geschrieben. Auch in dem Bewusstsein, dass ich einen Tag später meine erste Flugreise vor mir hatte: nach Madrid, Spanien.

Mein erstes Erlebnis mit dem Tod und ein tragisches Ende meiner Gesamtschulzeit.

Nach den Osterferien hatte ich noch zwei Wochen Schule. Eine Woche später folgte die mündliche Prüfung in meinem vierten Abiturfach Mathe. Mein Termin war Highnoon – 12:00 Uhr mittags. Zur Ablenkung bin ich vorher noch in die Stadt gefahren und habe prompt meinen Taschenrechner zu Hause vergessen. Meine Lehrerin musste mir Ihren leihen. Dem Prüfungsergebnis hat das nicht geschadet: Es war die beste Note aller vier Abiturfächer.

Den Abiball habe ich aus Gründen nicht besucht. Das Motto unseres Jahrgangs können Sie auf meinem T-Shirt lesen: „Rien ne va plus – Nichts geht mehr“…

Neun Jahre Gesamtschule – es war auf jeden Fall eine spannende und lehrreiche Zeit. Sie hat mein Leben geprägt und mich politisiert. Es gab mehrere Lehrerinnen und Lehrer, die mit der Grünen Partei sympathisierten oder dort selbst politisch aktiv waren. Und trotzdem, es war in den 80er Jahren vor allem eine sozialdemokratische Schule. – Gustav Heinemann hat einmal gesagt: „Wer nichts verändern will, wird auch das verlieren, was er bewahren möchte.“ Die Idee der Gesamtschule zeigt wie wichtig Veränderungen sein können. – Die politischen Akzente haben schnell auf mich abgefärbt und mir mehr genutzt als geschadet. Politik spielt in meinem Leben seit Jahrzehnten die Hauptrolle. Wenige Monate nach dem Abitur habe ich zum ersten Mal bei einer Kommunalwahl kandidiert und danach über viele Jahre im Medienzentrum dieser Schule an Sitzungen der Bezirksvertretung teilgenommen.

Da ich nicht mehr allen meinen früheren Lehrerinnen und Lehrern persönlich danken kann, habe ich dies stellvertretend gegenüber meiner Schule zum 55. Jubiläum mit einem Portrait von Gustav Heinemann getan. Diese Schule kann stolz darauf sein, seinen Namen zu tragen.