Als ehemaliger Schüler einer Gesamtschule kann ich mir ein Urteil über diese Schulform erlauben.
Sie war immer ein Politikum. In Nordrhein-Westfalen war es vor allem eine Schule der SPD, die von der CDU abgelehnt wurde. Das ist auch nach über 50 Jahren heute kaum anders.
Die Entscheidung, eine Gesamtschule zu besuchen, habe ich nie bereut. Meine Mutter hatte mich damals zusätzlich an einem Gymnasium angemeldet. Auch dort habe ich den Eingangstest bestanden. Entschieden habe ich mich dann aber doch für die Gesamtschule. Ausschlaggebend war das Angebot an Sprachen und der Ganztagsbetrieb mit Freistunden und Mittagspause, umfangreichen Freizeitangeboten (Spielkeller, Bibliothek, Hausaufgabenbetreuung) und der Mensa.
Meine Gesamtschule war schon damals sehr groß. Die Gustav-Heinemann-Schule war eine der ersten Gesamtschulen in Nordrhein-Westfalen und auch die Erste von drei in Mülheim an der Ruhr.
Damals gab es mit Beginn des 5. Jahrgangs acht Klassen zu je 30 Schüler:innen. Ab dem 7. Jahrgang wurden daraus zehn Klassen mit je 24 Schüler:innen. Es wurden aus allen Klassen sechs Personen ausgewählt und daraus zwei neue Klassen gebildet. In meiner Klasse war ich einer dieser sechs.
Der Wechsel der Klasse und die Trennung der Unter- und Oberstufe hat dazu geführt, dass ich in den neun Jahren an der Gesamtschule viele verschiedene Lehrer:innen hatte. Ich habe nicht alle gemocht, aber viele haben mein Leben beeinflusst. Und das eher positiv!
Es gibt einige wenige ehemalige Lehrer:innen, die auch heute noch in Mülheim an der Ruhr leben. Manchmal begegne ich ihnen in der Stadt und sie erkennen mich immer noch wieder.
Zu einigen Lehrer:innen hatte ich ein sehr gutes Verhältnis. Sie haben sich nicht nur von ihren Schüler:innen duzen lassen, sondern teilweise auch privat mit ihnen Kontakte gepflegt. So habe ich auch bei mehreren Lehrer:innen zusammen mit anderen Klassenkamerad:innen einige Stunden bei ihnen zu Hause verbracht. Das gilt für Ralf Rahier (Klassenlehrer, Deutsch, Englisch, Kunst, Marionetten-Arbeitsgemeinschaft; Unterstufe), Irmelind Trempler (Französisch; Oberstufe), Eike Trempler (Kunst) und Frank Albrecht (Französisch; Unterstufe).
Eike Trempler ist inzwischen leider verstorben. Seine Trauerfeier in der Gesamtschule war sehr bewegend für mich. Mein Eindruck war allerdings, dass kaum ehemalige Schüler:innen dabei waren. Getroffen habe ich nur eine einzige ehemalige Mitschülerin, die ich bereits seit der ersten Klasse kenne. Dafür habe ich aber viele ehemalige Lehrer:innen getroffen.
Frank Albrecht und Rosemarie Scholz (damals Nevries, Deutsch und Englisch; Unterstufe) gehören zu den Lehrer:innen, denen ich häufiger mal begegne. Ralf Rahier wohnt leider schon länger an der Ostsee.
Die Gesamtschule hat mich politisiert. Es gab dort mehrere Lehrer:innen, die mit den Grünen sympathisiert haben oder sogar dort politisch aktiv waren. Und trotzdem, es war zu dieser Zeit vor allem eine sozialdemokratische Schule.
Die grünen Akzente haben aber schnell auf mich abgefärbt und mir sicherlich mehr genutzt als geschadet. Politik spielt in meinem Leben nach wie vor die Hauptrolle.
Über die Zeit in der Gesamtschule gibt es aber nicht nur Gutes zu berichten. Ich habe auch Erlebnisse gehabt, an die ich nicht so gerne zurückdenke. Eines dieser Erlebnisse ist aber eng mit dem Thema Sprachen verbunden und mir deshalb stets präsent.
Mein Interesse an Sprachen war ja wie gesagt einer der Gründe, die Gesamtschule zu besuchen. Und da ich das Ziel hatte, Romanistik zu studieren, war für mich auch klar, dass ich Französisch und Spanisch als Abiturfächer belegen wollte. Und möglichst als Leistungskurse.
Die Ernüchterung kam allerdings in der 11. Klasse mit der Wahl der Kurse. Die Schulleitung war nicht bereit, für beide Sprachen einen Leistungskurs einzurichten. Entscheiden sollte die Zahl der Anmeldungen: Für Französisch gab es 13, für Spanisch 12. So hatte ich dann ab dem zweiten Halbjahr der 11. Klasse den Leistungskurs Französisch, bestehend aus zwölf Schülerinnen und mir und Irmelind Trempler als Lehrerin, und einem Grundkurs Spanisch, der später mein drittes Abiturfach (schriftlich) werden sollte.
Bereits eineinhalb Jahre später kam die nächste Ernüchterung, denn es gab am Ende der 12. Klasse nur noch vier (!) Schüler:innen, die Spanisch bis zum Abitur belegen wollten. Alle Anderen hörten auf. Ich war allerdings der Einzige, der Spanisch als Abiturfach gewählt hatte.
Die Bedingung der Schulleitung zur Weiterführung des Kurses mit vier Personen (drei weiblich und ich) war ein neuer Lehrer.
Ich hatte Glück. Ein Lehrer namens Loth kam nach Mülheim an der Ruhr.
Doch die Probleme ließen nicht lange auf sich warten. Schon vor den Weihnachtsferien, kurz nachdem Herr Loth die Aufgaben für die Abiturklausuren bei der Bezirksregierung zur Genehmigung eingereicht hatte, fiel der Unterricht wegen Krankheit aus. Nach den Ferien gab es dann einige wenige Vertretungsstunden von der Lehrerin Frau Schlang-Redmond, die ich bereits in der 11. und 12. Klasse hatte.
Mitte März, kurz vor den Osterferien, fanden die schriftlichen Prüfungen statt. In der ersten Woche habe ich freitags meine Klausur in Französisch geschrieben. In der zweiten Woche standen am Dienstag Erdkunde (Leistungskurs) und am Donnerstag Spanisch auf dem Plan. Am Freitag hatte ich frei und startete eine zweiwöchige Reise.
Die Klausuren liefen inhaltlich ohne Probleme. Der Schock kam jedoch während der Erdkundeklausur: Es gab die Mitteilung, dass Herr Loth gestorben ist. Er hatte Krebs.
Der Schock saß auch zwei Tage später noch fest. Ich saß im Klassenraum und hatte die Aufgabe, eine Spanischklausur zu bearbeiten, die gut drei Monate vorher ein kranker Lehrer erstellt hatte. Die Schulleitung bot mir sogar an, die Klausur zu verschieben und nach den Osterferien zu schreiben. Aber wäre die Situation eine Andere gewesen?
Nein, ich habe die Klausur tapfer geschrieben. Auch in dem Bewusstsein, dass ich einen Tag später meine erste Flugreise vor mir hatte: nach Madrid, Spanien.
Mein erstes Erlebnis mit dem Tod und ein tragisches Ende meiner neunjährigen Gesamtschulzeit.